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Erreicht die neue iranische Rakete Osteuropa bzw. Österreich?
Vitale Expertendebatte US-amerikanischer und israelischer Experten über ‚Sejil-2'

Am 17. September hat US-Präsident Obama eine in Europa und Russland als grundsätzlicher Kurswechsel vielgelobte Änderung im Konzept der Raketenabwehr (Ballistic Missile Defence - BMD) bekannt gegeben. Genauer betrachtet, haben er und sein Verteidigungsminister Gates den Ersatz von fest installieren Elementen in Polen und Tschechien durch spätere, mobile Systeme angekündigt. Nun stehen iranische Mittelstreckenwaffen im US-Focus.

Der gesamte Artikel:

'Dr. Seltsam' am Persischen Golf?
David lernt es wohl nicht, die (iranische) Bombe zu lieben...

Teil 2 (Luftstreitkräfte, Angriffsrouten, Luftverteidigung)

Teil 3 (vom Nuklearprogramm zum Gefechstkopf)

Teil 4 (Raketen und deren Abwehr)

Abseits vermuteter oder tatsächlicher Tauschgeschäfte mit dem sich durch die bisherigen Pläne - technisch, nicht sicherheitspolitisch - stets bedroht gefühlten Russland, bleibt eines festzuhalten: Das ist kaum jener Schritt genereller Abrüstung als der ihn viele Stimmen in Europa reflexartig bejubelt haben. Es werden seitens der USA weiterhin neue Elemente exo-atmosphärischer Raketenabwehr entwickelt und installiert. Grafisch ausgedrückt: Von vier ‚Schichten' in der ‚Zwiebel' der BMD wurden Elemente aus der äußersten ‚Schale' in die darunter liegende Schicht verlagert. Und: Die Begründung der Amerikaner fordert Europa bzw. die EU-Länder eigentlich noch mehr als bisher.

Lt. Erkenntnissen ihrer und befreundeter Dienste wäre die Gefährdung - der kontinentalen USA - durch künftige iranische Langstreckenraketen (ICBMs) weniger groß als bisher (von der Bush-Administration) angenommen oder dargestellt, jene von US-Einrichtungen, Truppen oder befreundeten Staaten durch deren Kurz- und Mittelstreckenraketen (IRBMs oder MRBMs) sei jedoch signifikant gestiegen. Obama (17.9.): "Die Bedrohung durch iranische Raketenprogramme bleibt weiterhin unser Fokus und Basis des Programms das wir heute verkünden. ... Wir unterstreichen damit die Bedrohung durch diese Waffen, die bis nach Europa reichen." Bob Gates: "In näherer Zukunft werden die größten Raketenbedrohungen aus dem Iran für uns, unsere Alliierten und Partner bzw. für unser Personal im Mittleren Osten sowie in Europa bestehen."

Alle EU-Länder - ob in NATO oder neutral - können als mit den USA befreundet, bzw. als deren Partner (z.B. in der PfP) gesehen werden. Viele sind nun erleichtert, der politischen ‚Spaltung' durch die bisherigen US-Pläne entgangen zu sein, die seitens der USA nun verfolgten schiffsgestützten ‚Aegis'/SM-3 Systeme sind aber offenbar ebenso willkommen wie deren angekündigte landgestützte Abarten. Es scheint man sei in europäischen Außen- und Verteidigungsministerien froh, nun selbst mal nichts tun zu müssen. In der Tat ist bis auf die MEADS-Pläne über (eigene) Raketenabwehrpläne Europas wenig Konkretes bekannt. Jene würden wohl auch nur gemeinsam durch EU und NATO technisch u. finanziell möglich erscheinen.

Aber wozu? Wie weit reichen nun aber jene iranischen Waffen? Sind sie ernst zu nehmen?

Die heikle Thematik - im Moment eine theoretische Bedrohung auf ballistisch-mathematischer Basis - scheint für die stets wahlkämpfenden Politiker (und deren Medienmacher) unserer EU-Länder wohl eine unerquickliche und somit wenig Quoten-taugliche. Es wäre aber eigentlich Aufgabe der gewählten Sicherheitsverantwortlichen, den Souverän über derlei sicherheitsrelevante Entwicklungen zu informieren. Wenn nötig zur besten Sendezeit. Zu breiter Panik - wohl größte Furcht - besteht (zurzeit) ja ohnehin kein Grund und vorgehen ließe sich dagegen nur auf EU/NATO/UN-Ebene etwas, gleich ob diplomatisch oder militärisch.

Am 20. Mai meldeten die iranischen Revolutionsgarden - ihnen untersteht das vielschichtige Raketenprogramm der islamischen Republik - über die persischen Nachrichtenagenturen den zweiten und erfolgreichen Test einer neuen zweistufigen Rakete. Über die Reichweite des Flugkörpers ‚Sejil-2' (oder ‚Sajil') wird seither in Think-Tanks, Diensten, Instituten sowie internationalen Wehrmedien und -blogs leidenschaftlich hin- und hergerechnet bzw. -gestritten. Die letzte Ausgabe von Jane's Strategic Weapons Systems stuft sie als IRBM (Intermediate Range Ballistic Missile) ein.

Gleich vorweg: Niemand im Iran hat - bei aller Radikalität seiner theokratischen Führung und deren "Tod Israel" Parolen - militärische Drohungen gegen mitteleuropäische Länder oder die EU ausgestoßen. "Der Iran wird nicht so leichtsinnig sein, Europa oder die USA anzugreifen, es gibt keine glaubwürdige Bedrohung Europas aus dem Iran…", so der Demokrat Philip Coyle letzten November im ‚Nonproliferation-Briefing-Book' der ‚Peace and Security Initiative' an den künftigen US-Präsidenten Obama.

Trotzdem hat allein die iranische Fähigkeit ‚Sejil' und mögliche ‚Nachkommen' erfolgreich zu konstruieren und abzufeuern, kausal mit der Haltung diverser EU-Regierungen zur bzw. den möglichen weiteren US-Überlegungen bezgl. Raketenabwehr in oder für Europa zu tun. Deren Wortmeldungen und Positionen reichen da - wohl auch wegen Rücksicht auf Moskaus Ablehnung - ja von vorsichtig zustimmend über zögerlich aussitzend bis zu offen ablehnend, auch quer durch Koalitionsregierungen. Daher an dieser Stelle ein apolitischer Versuch der Zusammenfassung einer sehr technischen Diskussion.

Eine Expertendebatte dreht sich darum, anhand von verfügbaren offiziellen Angaben der iranischen Regierung, inoffiziellen Daten z.B. der iranischen (Exil)Opposition, Aufklärungs(sensor)ergebnissen sowie den zugänglichen (offenen) TV-Clips der Starts, mathematisch festzustellen welche Reichweite und Nutzlast der neue Entwurf hat. Eines ist an ihm jedenfalls hervorzuheben: Beide Stufen der zweistufigen Waffe sind erstmals von Festbrennstoff (Granulat) angetrieben, erkennbar am Partikelstrahl hinter dem Flugkörper. Das macht ‚Sejil' gegenüber flüssigem Treibstoff (wie z.B. in früheren ‚Shahab') wesentlich sicherer in der Handhabung, wesentlich kürzer in der Feuervorbereitung und somit deutlich kürzer angreifbar.

Der frühere Leiter der israelischen Raketenabwehr und ‚Vater' ihrer Abwehrrakete ‚Arrow', Uzi Rubin, behauptete nun Ende August bei einem Vortrag in der ‚Raketenstadt' Huntsville (Alabama), dass ‚Sejil' tatsächlich eine Reichweite von 2.500km hätte und nicht 2.000km wie bislang angenommen. Er bezieht sich in seiner kritischen Analyse auf einen Bericht des ‚East-West Institutes' (EWI, New York, Brüssel und Moskau), der vom bekannten Kritiker Präsident Bush's US-Raketenabwehrplänen, MIT-Prof. Theodore Postol veröffentlicht wurde. Rubin rückte danach - freilich gemessen von einem Abschußort in der nordwestlichsten Ecke des Irans - Griechenland, Rumänien und Bulgarien sowie die östlichsten Landesteile von Polen sowie von Österreichs Nachbarn Ungarn und Slowakei in Reichweite der ‚Sejil'.

Rubin's Hauptkritikpunkt an Postol's EWI-Report vom 19. Mai ist, dass dort folgende Feststellung erfolgt: "Es gibt zurzeit keine taugliche Information über den Stand der iranischen Anstrengungen Festbrennstoff-Raketentriebwerke zu entwickeln und deshalb keine Basis eine Beurteilung zu treffen…" Nur einen Tag später erfolgte der Test von ‚Sejil', der ersten Feststoffrakete der islamischen Republik mit gleich zwei Festbrennstoff-Stufen.

Rubin: "Die haben Entwicklungsingenieure und Programmmanager die wissen was sie tun. In nur 18 Monaten haben zwei getrennte Teams von zwei Testgeländen sechs Starts von neuen oder modernisierten, aber auf jeden Fall mehrstufige Raketen gemacht. Davon eine dreistufige mit einer Nutzlast bis in einen erdnahen Orbit. Wenn da eine Herausforderung für sie da war, haben sie diese geschafft."

Der offizielle Iran machte in seinen - jeden Start begleiteten - offiziellen (Jubel)Meldungen widersprüchliche Angaben zur Reichweite von ‚Sejil'. Als im November 2007 der erste Prototyp (genannt ‚Ashura') fehlschlug, behauptete man "mehr als" 2.000km. Nach zwei weiteren Tests letzten Oktober und eben Ende Mai gab man "bis zu" 2.000km an. US-Verteidigungsminister Gates - von Obama im Amt belassen - spricht in einer Anhörung vor dem Verteidigungsausschusses des US-Senats von 2.000 bis 2.400km, allerdings würde er "wegen Problemen mit den Triebwerken die Reichweite eher am unteren Ende dieses Spektrums ansetzen."

Am 31. Mai - 10 Tage nach dem Test - hat Prof. Postol plötzlich ein Zusatzprotokoll speziell zu ‚Sejil' ‚nachgereicht', darin gibt er die Daten von 'Sejil' mit 18,21m Länge, 1,25m Durchmesser und einem Gesamtgewicht von 21,5 Tonnen an, inkl. einem Gefechtskopf von 1.000kg. Er rechnet davon aber hoch, dass eine iranische Festbrennstoff-Rakete die auch (Nord)Westeuropa erreichen könne, ein nur sehr eingeschränkt mobiles "Monster von 65 Tonnen" wäre. Er schließt dass man "auf Basis der ‚Sejil' nicht einfach eine ballistische Interkontinental-Rakete entwickeln könne, welche Nordwesteuropa oder gar die USA erreichen könne."

Uzi Rubin kommt in seiner Entgegnung (z.B. in Jane's) jedoch zu anderen Schlussfolgerungen. Er rechnet das Potential von ‚Sejil' anhand von Zeit/Wegmessungen der bekannten TV-Startsequenzen hoch und gibt die Brenndauer der beiden Stufen (55.600kgf Schub aus 12,5 Tonnen Treibstoff, bzw. 21.800 kgf aus 4,9 Tonnen) mit je 50 Sekunden an. Mit der von ihm ermittelten und von US-Minister Gates genannten Reichweite von eher 2.500km wäre - vom Nordwestiran - knapp auch Ostösterreich theoretisch betroffen. Zur Illustration des technischen Stands: Die amerikanische ‚Minuteman III' (18m lang) sowie die russische SS-27 ‚Topol' (22m) kommen auf ca. 35 Tonnen, reichen aber beide über 10.000km weit.

Vor wenigen Tagen, am 22. September 1388 (nach persischem Kalender) wurde die Waffe nun auf ihrem kombinierten Transport/Abschussfahrzeug an der Ehrentribüne der Teheraner Militärparade vorbeigezogen. Kommentatoren und amtliche Meldungen bezeichneten sie dabei als "nun in Produktion" und erstmals wurde in einer IRNA-Aussendung ein Gefechtskopf (mit einer Tonne) erwähnt.

Dr. Rubin nennt die Fortschritte des iranischen Raketenprogramms jedenfalls "bemerkenswert". Nach seiner Meinung wäre es für den Iran keine große Herausforderung, die ‚Sejil' in eine kompakte, überlebensfähige Interkontinental-Rakete mit ~40 Tonnen und einer Reichweite von 3.900km weiterzuentwickeln.

Bewusst wurde hier die Frage ausgeklammert, was denn genau der Iran in den Gefechtsköpfen bzw. der Nutzlast jener Raketen transportieren will? Hier geht es nicht um das Atomprogramm bzw. ob jenes auch eine militärische Komponente hat. Aber auch konventionelle Gefechtsköpfe wären für unsere hochindustrialisierten, demilitarisierten aber medial hoch-sensitiven Gesellschaften eine kaum verkraftbare Bedrohung.

Näher am Iran will man auch das nicht - untätig - abwarten. Die Emirate (VAE) haben vor einem Jahr und 3,3 Milliarden US$ ‚Patriot' Luftabwehrsysteme und heuer Lockheed's kommende THAAD-Raketenabwehr bestellt, für die Türkei wurde erst vor wenigen Tagen der US-Kongress um die Freigabe von 13 ‚Patriot'-Batterien ersucht. Saudi-Arabien überlegt - ganz ungewöhnlich - das modernste russische System S-400. Volumen: Jeweils rund 7 - 8 Milliarden US$...

Rubin: "Egal wessen, wenn unser beider Hochrechnungen richtig sind, sollte Europa spätestens jetzt mit dem Aufbau einer Raketenabwehr beginnen..."

*Das EWI bezeichnet sich als ‚Think-and-do'-Tank, wurde 1980 von John Mroz und Ira Wallach gegründet um das Trennende des Eisernen Vorhangs zu überwinden und ist heute in New York, Brüssel und Moskau vertreten. In seinem Board sind Namen wie Martti Ahtisaari, Torvald Stoltenberg, Hans-Dietrich Genscher, Ross Perot Jr. sowie US-Konzernchefs, ex-Staatspräsidenten und ex-Außenminister aus West und Ost.

Georg Mader

Reichweitenberechnung von Raketen
von Martin Rosenkranz

Die Berechnung der Reichweite einer Rakete ist an sich keine schwarze Kunst - vorausgesetzt man besitzt Kenntnis über die dafür notwendigen technischen Parameter.
Das mathematische Rüstzeug dafür entwickelte der Russe Konstantin Ziolkowski im Jahr 1903. Seine "Raketengrundgleichung" berechnet anhand der Startmasse, der Endmasse sowie der Ausströmgeschwindigkeit der Gase oder deren Schubkraft die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Start und Ziel über eine beliebig definierbare Zeitspanne.


Doch weder Rubin noch Postol noch sonst wer außerhalb der handelnden Personen im Iran verfügen über fundierte Daten welche mehr als eine äußerst grobe Reichweitenberechnung ermöglichen.

Beide Herren bzw. das EWI sowie die NATO und sonstige Organisationen verwendeten Daten welche primär aus TV- und sonstigen Bildern hochgerechnet wurden.

Auf welch unsicheren Boden diese Eckdaten stehen zeigt sich schon am Vergleich mit Feststoffraketen ähnlicher Größen bzw. Reichweiten.

  • Der Sowjetischen Zweistufen-Feststoffrakete SS-14, eine Entwicklung der 60er Jahre, wurde bei einer Startmasse 16-17,5t mit 535kg Gefechtskopfmasse eine Reichweite von 2.500-3.000km zugesprochen.
  • Die Pershing II hatte beim Start gar nur 7,4t und mit ihrem 440kg Gefechtskopf eine Maximalreichweite von 1.770km.
  • Die Chinesische Dongfeng-21, ebenfalls Zweistufen-Feststoff, soll bei einer Startmasse von 14,2-14,7t einen Gefechtskopf von 600kg Masse auf eine Reichweite von 1.770-2.500km tragen.
Worauf fußen also Prof. Postol's Berechnungen?

Praktisch die gesamte Größenberechnung fußt auf der Annahme eines identen Durchmessers der Sejil-2 mit der Shahab-3M - das sind 1,25m. Daraus ableitend errechnet sich eine Höhe von 18,21m, sowie Höhe und Masse der beiden Stufen. Dies wären 14.720kg für Stufe 1 sowie 5.780kg für Stufe 2. 15% der Gesamtstufenmasse wird als Leermasse angenommen.
Abgeleitet aus den Fernsehbildern wurde eine Startbeschleunigung von rund 1,6G berechnet womit bei einer Gesamtmasse von 21,5t eine Schubkraft von 55-56t notwendig wären.
Der Spezifische Impuls wird mit 220sec (2.158m/s) auf Meereshöhe sowie 250sec (2.452m/s) angegeben. Als Brennzeit der Stufen werden 2x50 Sek. angegeben.

Der Streit bzw. die Reichweitendiskussion zwischen Rubin und Postol hat so betrachtet nicht technisch sondern eher geopolitische Ursachen - den fundierte Parameter stehen dafür nicht zur Verfügung. Schon geringe Abweichungen von 10% zu den angenommenen Werten könnten erhebliche Abweichungen ergeben.

externe LINKS

A Technical Assessment of Iran's Ballistic Missile Program
by Theodore Postol

Defense Against Iran’s Ballistic Missiles
by Theodore Postol

The Sejjil Ballistic Missile
by Theodore Postol

Iran’s Missile: Current and Future Implications for Europe
Uzi Rubin
12th Space and Missile Defense Conference, Huntsville Alabama

The Iranian nuclear crisis: a risk assessment.
Sir John Thomson

General, you have the advantage of time
Iran's Response to the US Military Option

by Sam Gardiner (USAF Col. ret.)